
Deutland, nachdem uns Eldoran verlassen hat
Eleven
Mir ist spät aufgefallen, die die Zahl Elf in meinem Leben eine besondere Rolle spielt. Ein wiederkehrendendes Schicksals Kontinuum, eine Gradation innerhalb meines Lebens. Wenn sich von Zeit zu Zeit die Tür öffnet, hinter der ich eingesperrt bin, erhasche ich einen flüchtigen Blick auf zwei Einsen.
Ich war elf Jahre alt, als meine Mutter mich das erste Mal im Internet anbot. Elf Jahre später habe ich sie umgebracht. Es war kein Akt der Gewalt, keine böse Absicht, vielleicht nur ein unausweichlicher Schritt zu meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag.
Die näheren Umstände sind ohne Belang, entbehren jeglicher Dramatik und für mich nur auf favoritenbehafteten Internetseiten präsent. Ich habe dem heutigen Datum entgegengefiebert, elf Jahre lang, Tag für Tag. Wenn gleich die Welt untergeht, oder elfenhafte Wesen den Aufsehern die Köpfe verdrehen, meine Zellentür öffnen und mich mit ihrem Zauber überschütten, werde ich ein wissendes Grinsen tragen. Ich habe Pläne. Unbeeindruckt von Jahreszahlen, ausfallendem Haar oder Wertpapieren schreibe ich mein Leben nieder. Wie lange es braucht, eine Seite zu füllen, diktiert das Erinnerungsvermögen, die Gleichförmigkeit der eingesessenen Lebensjahre und meine Deadline. Mit vierundvierzig gelingt mir der nächste Wurf, werde ich zum Pitcher, der rennt und fängt und weiterrennt.
Das Knarzen des Türschlüssels schreckt mich auf. Ich werfe einen schnellen Blick auf die Seitenzahl, ob sich dort Symbolik verbirgt, schlage das Buch zu und auf den Tisch.
Besuch bekomme ich nicht, nehme mein Recht auf eine private Sphäre wahr, Essen ist durch, Zelle gefilzt. Dann liegt es am Datum, das ich eintrage, wenn es gefragt wird, was einem ganz zuletzt mit Unglauben erfüllt.
Ich habe es Professor Heinzi nie gesagt, dass mit meinen Träumen von ihm. Heinzimann schließt meine Tür auf, ahnungslos. Nachts, wenn ich die graue Decke mit den schwarzrotgoldenen, verblichenen Streifen bis unter die Nase ziehe, stelle ich ihn mir als Frau vor, sitz im Frauenknast ein, hab Daddy getötet. Früh genug hätt es sicher was gebracht, hätt vielleicht die Kausalität durcheinander gebracht, Lebenslinien erhalten.
Daddy war nur ein Bild an der Wand. Vielleicht nur vergessen, ansonsten bemerkenswert konsequent in seiner Ironie. Wer hat schon sein alptraumhaftes Verlassmichnicht eingerahmt, zudem ohne Band?
Der neunmalkluge Heinzi steht in der Zelle, Mütze und Grinsen schief wie immer. In seinem Schritt funkelt dunkel ein feuchter Fleck, der alles bedeuten kann. Ich sage nichts, will nichts beschwören. Und doch, es gibt einen Schwur. An meinem letzten Tag ritz ich Heinz und Franz in die Wand, umrahmt von einer Arschbacke.
„Franz, auf, der Direx verlangt nach dir. Irgenwas mit ne Anesie.“ Mein heimlicher Berufswunsch verflüchtigt, wir werden nie Kollegen werden, nie dieselbe Sprache sprechen.
„Heinz, das heißt Amnestie …, Amnestie.“ Wenn er Recht hat, wird’s mir fehlen, dieses Behördendumm.
Der Direx ist ne Frau, kann sprechen, zuhören, sich wundern. Hat gelernt, Tacheles zu reden, hier in ihrem Büro und anderswo. Ich mag sie. Sie hat kein Verlassmichnich an der Wand, ihr Schreibtisch ist bar jeder Ablenkung von dem, was sie zu verkünden hat.
„Franz Trunsjek?“
Nicken.
Geboren 18.06.1998?“
Nicken.
„Sie wissen, was heute für ein Datum ist?“
Grinsen, Nicken.
„Gute Führung, lese ich hier, dritter Antrag, stimmt das?“
Nicken, heftig, ausklingend.
Sie verlässt ihre Schwelle, beugt sich vor, gewährt mir Einblick, ich seh die Zukunft vor mir. Ihre Hand ist warm, waren Hände schon immer so warm?
„Hier steht, sie haben Familie, die auf sie wartet, eine Arbeit, die für Einkunft sorgt?“
„Zieh zur Cousine dritten Grades, lebt in Belderlin. Schreiben tue ich, verlagsgestützt und zweckgebunden“, spare ich mir ausladende Worte, vertusche die Gegebenheiten.
„Herr Trunsjek, wir wollen sie hier nicht wiedersehen, nicht Morgen und nicht in elf Jahren.“ Ihre Hand will mich nicht verlassen, ich spüre durch den kopulierenden Schweiß unserer Innenflächen eine unerwartete Nähe.
Sie wusste Bescheid, all die Jahre, flüsterts mir im Ohr.


