Nachruf 

Gestorben wird gerne im Herbst, so wie es schien, und mir war es Recht. Ich bin nicht eingeladen zu diesem Ort, obwohl ich gleich zweimal anwesend bin. Niemand hat mir eine Karte geschickt und mir mitgeteilt, das ich heute beerdigt werde. Eine stille und in sich horchende alte Dame, das Leben beobachtend und nun wohl meinen letzten Weg, wie es so beruhigend beschrieben wird. Wieder horche ich mit geschlossenen Augen, ob da etwas neues ist oder eine Veränderung und wirklich, diese Angst, mein Zorn auf diesen alten Körper, der mich immer mehr im Stich ließ, der klebrige Nebel in meinem Kopf, alles verschwunden. Natürlich war ich hier, an diesem Ort, an diesem letzten sonnigem Tag im Spätherbst, ein idealer Tag. 

Seltsam Leicht, schwebend wie der letzte von Nenas neunundneunzig Luftballons, knallig gelb am Himmel und doch nur in meiner Phantasie sichtbar. Ich kenne diesen Ort, selbst aus dieser ungewohnten Sicht, hier war ich von Zeit zu Zeit, um Abschied zu nehmen, um Erinnerungen zu wärmen, mir bewusst zu werden, das es mich noch gibt. Doch diesmal, aus dieser schwebenden Höhe sah alles aus wie einer dieser grünen Spielzeugteppiche, nun ein buntes Rechteck in einem völlig weißen Raum, nur die Perspektive stimmte, ich war wieder die Mutter, die im Kinderzimmer nach dem Rechten sieht und von oben die sorgsam arrangierte imaginäre Phantasiewelt von Bernadette betrachtet. 

Die kleine Bärenstarke, Bernadette, sie war immer das Nesthäkchen gewesen, selbst als sie irgendwann größer wurde Und uns alle mit ihrem unerklärlichem tiefgründigem Selbstbewusstsein in die Augen sah. Sie kam So sehr nach Ihrem Vater, ein Tüftler durch und durch und auch sie konnte Stunden damit verbringen, die vielen kleinen Blechautos, die sie so sehr liebte auf diesem Teppich nach einem nur ihr bekanntem Muster zu verteilen und zu bewegen. 

Der Stadtfriedhof lag ein wenig abseits, umgeben von hohen immergrünen Hecken, so dicht, das sie wie eine Wand wirkten. Es war, als ob jemand irgendwann beschlossen hatte, den hier begrabenen einen angenehmen ruhigen Platz zu sichern. Doch mit der Zeit hatte die kleine Stadt, zu der dieser Friedhof gehörte, sich nach und nach angenähert. Die Friedhofsgärtnerei, anfangs ein huzzeliger staubiger Laden voller Gerüche, ein begrünter Hinterhof, nun ein weitläufiger steriler Einkaufstempel mit Engeln und gekreuzigtem, ein Durchgang zur Terrasse der neuen Bäckerei, Ausblick auf Oma und Opa bei Kaffee und Kuchen. Daneben die Parkplätze, natürlich, hier fuhr niemand mit großen schwarzen Limousinen bis an die Grabkante, noch nicht. Meine Luftballonhülle zittert, von einer leichten Böe erfasst, oder ist es ein Schauer, der mich wie ein Phantomschmerz durchfährt? Unter mir, diesmal hingeworfen wie eine alte zerknitterte Decke, durchzogen von krummen Wegen, Herbstbäume wie orangene Büschel, ein Morsecode aus Grabsteinen. Ich mag nicht mehr so denken, sehne mich an meinen Nebel im Kopf zurück und dann beginnt die Trauerfeier für mich. 

Die alte Kapelle liegt wie riesiger Grabstein im dichten Laub, ein gelber Teppich, ausgelegt Zur letzten Begrüßung. Dann öffnet sich am Grabstein ein zweiflügeliges weites Tor und es entsteht ein unsichtbarer Sog, der die wenigen Gäste, die sich eingefunden haben erfasst. Ein kurzes, von Peinlichkeit und verspäteten Erkennen erfülltes Gedränge, der Pfarrer hebt die Arme zur Begrüßung, Schweifende Blicke auf der Suche nach einem passendem Platz, dem Platz, der gleichwohl Ihrer Rolle in meinem Leben gerecht werden mag. Nicht, das sie ihren Namen auf kleinen bedruckten Kärtchen erwarten können, das jemand, der Bescheid wusste, diese Auswahl sorgsam arrangiert hätte, nein, entsprechend ihrer Wichtigkeit, der familiären, der finanziellen, in welcher Richtung auch immer oder schlicht der Häufigkeit, mit der jemand in den letzten Jahren es versäumt hatte, sich bei mir blicken zu lassen oder trotz meiner zunehmenden Schwerhörigkeit ein paar nette Worte zu telefonieren erhob man Anspruch auf die vorderen Plätze, die vermeintlich guten mit den besten Aussichten. Nicht wie im Kino, wo alles nach hinten drängte, doch wie auch immer, heute war die Vorstellung zumindest für mich beendet. Abspann mit allen Beteiligten, ein Ende ohne Happy End. Die Kapelle ist zu klein, um Grüppchen entstehen zu lassen, zu klein, als das der geübte Beobachter, der erwartungsvoll vor dem Altar steht, Feindschaften ausmachen könnte. Ich sehe ein gerahmtes Bild von mir, das ist so üblich, meist ein Bild aus besseren Tagen und je jünger du darauf aussiehst umso beschissener war dein Leben. Um das Bild herum hat es ein paar Kränze, einige kleine Sträuße. Alles fein säuberlich beschriftet, schwarze Schrift auf weißer Seide, die Namen der Käufer fettgedruckt. Musik ertönt und einleitende Gebete, es wird gesungen und dann zieht der Pfarrer seinen Zettel heraus, auf dem mein Leben steht. 

Er lässt es gemächlich angehen, spricht bedächtigt und mit dröhnender Stimme meinen Namen aus wie ein Ave Maria und schaut dann schweigend auf die Versammelten, als ob er eine Antwort erwartet. Und dann sagt er ihn, seinen roten Faden, der ihn von nun an durch mein vorgelesenes Leben führen wird. Alles zu seiner Zeit. In zwei Sätzen handelt er meine Kindheit ab, über die ich ein ganzes Buch schreiben könnte, wenn ich mir nur die Zeit genommen hätte. Habe ich so wenig von mir preisgegeben? Meine ersten und frühsten Erinnerungen sind Gerüche von Heu und Schweiss, strahlende Gesichter viel zu nah an dem meinem, getragen werden vorbei an riesigen Fenstern, gedämpftes Flüstern und fernes Gelächter. Es war die Zeit des Aufbruchs in ein neues Leben, für mich und für meine viel zu jungen Eltern. Mich selber nehme ich nicht wahr in diesen jungen Jahren, verstehe nichts und niemanden, bis eines Tages alles anders ist und die gewohnte Welt in Trümmern liegt. Erinnere mich an den endlosen Sternenhimmel, während ich durch zerstörte Dörfer gezogen wurde. Erinnere mich an meinen Vater, wie sein Lachen verstummte und sein Name verschwand. Alles zu seiner Zeit. Wieder höre ich meinen Namen wie eine Anklage durch den dichten Nebel meiner Erinnerungen, Und wenn ich nur könnte, ich würde antworten und erzählen, alles erzählen. Zu jung, um zu verstehen, aber alt genug um es zu bemerken, wachse ich als Flüchtlingskind ohne Vater In ärmlichen Verhältnissen auf. Das Wirtschaftswunder ignoriert meine Mutter. Nachdem ich lesen gelernt habe, fängt mein ganz persönliches Wunder an. Alice im Wunderland der Bücher. Das geht eine ganze Weile gut, bis da ein neuer Mann die Wunderwelt betritt, ein Stiefvater Wie aus einem schlechten Roman und doch erschreckend echt. Wie alt mag ich damals gewesen sein und wer hat bestimmt, das dies die richtige Zeit für so etwas sein sollte? In dieser Zeit wächst mir eine zweite Haut, wie ein zu enges Kleid ohne Knöpfe und verklemmten Reißverschlüssen. Ich war ein intelligentes junges Mädchen, wenn ich es so betrachte und mich traue es zu sagen, half dem Lehrer beim korrigieren seiner Prüfungen, mit denen er unser Wissen über die damalige Welt abfragte und mit ein wenig Glück und finanzieller Unterstützung wäre ich gewiss später eine gute Lehrerin geworden. Die neugierigen Blicke der älteren Schüler lagen auf mir wie Suchscheinwerfer, versuchten meine zweite Haut zu durchdringen um mir mein Geheimnis zu entlocken. 

Doch ich schwebte schon in meiner Blase, hoch über allem, so wie jetzt und hier, wie ich euch von hoch oben beobachte, wie ihr um mich trauert oder verstohlen auf Eure Handys blickt, ob sich irgendwo etwas schlimmeres ereignet hat als mein Tod. Alles zu seiner Zeit. Alles hinter sich zu lassen war mir vertraut und diesmal war es an der Zeit und richtig. Er hieß Franz, ein wie er sagte Dahergelaufener und mit ihm lief ich davon und natürlich liefen wir nicht, er war durchaus vermögend auf seine Art, reich in seiner unbekümmerten Burschenhaftigkeit, besaß ein eigenes Motorrad, eine NSU mit Beiwagen, für damalige Verhältnisse ein seltener Besitz und auch sonst verstand er mir den Hof zu machen auf seine naive Art. Die Erinnerung an diesen spontanen Augenblick in meinem Leben, dieser atemlose Moment der alles besiegelte, der mir soviel gab und mich mutig und stark fühlen lies, hat mich bis in diese Kapelle begleitet. Wie oft habe ich später diesen Mut in mir gesucht und nicht mehr wiedergefunden. Der Pfarrer räuspert sich, verzettelt sich, findet nicht die richtige Zeit. Dann, seufzend, überspringt er Meine wilden Jahre oder er hat nie davon gehört, wie auch, er kennt mich nur vom Zuhören. Aber schnell findet er wieder seinen rote Faden und verkündet erneut alles zu seiner Zeit. Ich habe gearbeitet, bevor die Kinder kamen und dann später, als alles vorbei war, das mit dem großziehen von vier Kindern und den Geldsorgen und der einzig erfolgreichen Diät. Warum ich damals in der Kesselfabrik anfing, weiß ich nicht mehr, wahrscheinlich habe ich es nie gewusst. Aber es war eine Arbeit die mir gefiel, habe frisch zusammengepresste Benzinkanister Mit einer Lampe auf Dichtheit geprüft und mir keine Gedanken über meine Bildung oder die Welt gemacht. Dann wurde ich das erste Mal schwanger und wieder brach eine neue Zeit an. Nun war ich wirklich gespannt, was der Pfarrer über diese langen Jahre vorlesen würde. Es wurde still in der Kapelle und alle schauten erwartungsvoll zu ihm auf, wie er da würdevoll und allwissend vor Ihnen stand und was ihm wohl erzählt worden ist, von denen, die dabei waren, den Zeitzeugen, und er faltete seinen Zettel zusammen und rezitierte aus dem Buch für wohlwollende Nachreden, aus dem Kapitel ganz am Ende, mit halbgeschlossenen Augen, auswendig, gekonnt meinen Namen einwebend in die schmeichelnden Worte. 

Auf der vordersten Bank fängt Jerome irgendein Zeichen auf das mir entgangen ist und erhebt sich. Er rezitiert ein Gedicht, in knochigen Versen, ein wahrer Schüttelreim, selbstverfasst, mir gefällt es, obwohl ich nicht alles verstehe. Jerome, mein lieber Sohn, dieser schlug ganz nach mir, ich fand mich in ihm wieder. Dann habe ich dieses Bild vor Augen, wie er in seinem Zimmer still aus dem Fenster blickt, neben sich das Klack Klack Klack des mechanischem Metronoms, ein Überbleibsel einer eingeschlafenen Blockflöten Karriere seiner jüngeren Schwester. Er hatte uns an diesem Tag um etwas gebeten, was selten vorkam, etwas von großer Wichtigkeit für ihn, alle seine Freunde besaßen so etwas und bastelten gemeinsam in Kellern und Garagen, an Ihren Mopeds und Mofas, manche waren schneller als ein durchgegangenes Pferd und ich erinnere mich gut, wie ich damals entschied, entscheiden musste. Dafür ist nicht die Zeit, sagte ich und dabei dachte ich an das Geld, das nicht da war, für das Mofa, für den Helm, die Versicherung und dabei fürchtete ich mich vor der Angst, die ich haben würde und ich fürchtete mich vor Pferden, diesen unnahbaren riesigen Geschöpfen mit ihren schwarzen Augen, damals auf der Flucht vor dem Krieg. Er wurde später ein Gestalter von Welten, ein Traumerfüller mit Qualitätsgarantie, wie er es gerne nannte, wo er das wohl gelesen hatte? Er war nicht zimperlich mit Geschenken, Träume werden gut bezahlt, sagte er leise und lächelte dabei. 

Das alles dauert nur einen Gedankenblitz und dann bin ich wieder hier, höre das hölzerne Klack Klack Klack seiner Verse und diesmal schaue ich aus diesem Fenster, sehe was er gesehen hat und verstehe. Alles zu wessen Zeit? Dann, mir zu Ehren oder als letzten Gefallen, ertönt aus unsichtbaren Lautsprechern meine Musik und bald es wird unruhig in den Bankreihen und alle erheben sich zum singen. Es ist spät geworden, viel kann nicht mehr kommen, die Kerzen zappeln mit den wenigen Enkeln um die Wette und auch der Pfarrer, ich seh es ihm an und kann es ihm nicht verübeln, ist am Ende. Alles zu seiner Zeit Draußen ist es dunkelgeworden, der gelbe Laubteppich feucht vom Regen und vor der kleinen Kirche spannen sich die Regenschirme gegen den grauen Himmel. Ich möchte mich verkriechen, das hier zu einem würdigen Abschluss bringen und danach in den wenigen Bildern leben, die Morgen zu den anderen auf die Kaminsimse und in die Schrankvitrinen gestellt werden. Feuchte schwere Erde bedeckt meine Asche, ich bin endlich frei und schwebe wie ein Ballon irgendwo hin, nur weg von hier und unten wird geweint oder ratlos der Rest der zerrissenen Leine betrachtet und dann erkenne ich meinen Franz, so als ob nichts gewesen wäre und alles neu beginnen könnte

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