Nachruf
Ich bin nicht eingeladen zu diesem Ort, obwohl ich gleich zweimal anwesend bin. Niemand hat mir eine Karte geschickt und mir mitgeteilt, dass ich heute beerdigt werde. Ich horche mit geschlossenen Augen, ob da etwas Neues ist, eine Veränderung, und wirklich, die Angst, mein Zorn auf den alten Körper, der mich immer mehr im Stich ließ, der klebrige Nebel in meinem Kopf, alles verschwunden.
Natürlich war ich hier, an diesem Ort, an diesem letzten sonnigen Tag im Spätherbst. Ein idealer Tag. Seltsam leicht, schwebend wie der Letzte von Nenas neunundneunzig Luftballons, knallig gelb am Himmel und doch nur in meiner Fantasie sichtbar. Ich kenne diesen Ort, selbst aus dieser ungewohnten Sicht, hier war ich von Zeit zu Zeit, um Abschied zu nehmen, mir bewusst zu werden, dass es mich noch gibt.
Der Stadtfriedhof liegt abseits, umgeben von hohen, immergrünen Hecken, so dicht, dass sie wie eine Wand wirken. So als ob jemand beschlossen hatte, den hier begrabenen einen angenehmen, ruhigen Platz zu sichern. Die Stadt, zu der dieser Friedhof gehört, schleicht wie ein hungriges Tier unaufhaltsam näher.
Die Friedhofsgärtnerei, anfangs ein hutzeliger, staubiger Laden voller Gerüche, ein begrünter Hinterhof, nun ein weitläufiger steriler Einkaufstempel mit Engeln und gekreuzigtem, mit Durchgang zur Terrasse der neuen Bäckerei, Ausblick auf Oma und Opa bei Kaffee und Kuchen. Daneben die Parkplätze, natürlich, hier fuhr niemand mit großen schwarzen Limousinen bis an die Grabkante …, noch nicht.
Meine Luftballonhülle zittert, von einer leichten Bö erfasst, oder ist es ein Schauer, der mich wie ein Phantomschmerz durchfährt? Unter mir, hingeworfen wie eine alte, zerknitterte Decke, wieder der Friedhof. Durchzogen von krummen Wegen, Herbstbäume wie orangene Büschel, ein Morsecode aus Grabsteinen. Ich mag nicht mehr so denken, sehne mich an meinen Nebel im Kopf zurück und dann beginnt die Trauerfeier für mich. Die alte Kapelle liegt wie ein riesiger Grabstein im dichten Laub, ein gelber Teppich, ausgelegt zur letzten Begrüßung.
Am Grabstein öffnet sich ein weites, zweiflügeliges Tor und es entsteht ein Sog, der die wenigen Gäste erfasst, die sich eingefunden haben. Ein kurzes, von Peinlichkeit und verspätetem Erkennen erfülltes Gedränge. Der Pfarrer hebt die Arme zur Begrüßung. Die winzige Kapelle erfüllt von schweifenden Blicken, auf der Suche nach einem passenden Platz. Dem Platz, der gleichwohl Ihrer Rolle in meinem Leben ihnen gerecht erscheint. Nicht, dass sie ihren Namen auf kleinen bedruckten Kärtchen erwarten können. Das jemand, der Bescheid weiß, diese Auswahl sorgsam arrangiert hat. Nein. Entsprechend ihrer Wichtigkeit, der familiären, der finanziellen. Bestimmt durch die Häufigkeit, mit der jemand sich bei mir blicken ließ, trotz meiner Schwerhörigkeit ein paar nette Worte zurief, erhebt man Anspruch auf die vorderen Plätze. Die vermeintlich guten mit den besten Aussichten. Nicht wie im Kino, wo alles nach hinten drängt, doch wie auch immer, heute war die Vorstellung für mich beendet.
Die Kapelle ist zu klein, um Grüppchen entstehen zu lassen. Zu klein, als dass der geübte Beobachter im Talar, der erwartungsvoll vor dem Altar steht, Feindschaften ausmachen könnte. Ich sehe ein gerahmtes Bild von mir, das ist so üblich, meist ein Bild aus besseren Tagen. Je jünger du darauf aussiehst, umso beschissener war dein Leben. Um das Bild herum hat es ein paar Kränze, einige kleine Sträuße. Alles fein säuberlich beschriftet, schwarze Schrift auf weißer Seide, die Namen der Käufer fettgedruckt. Musik ertönt und einleitende Gebete, es wird gesungen und dann zieht der Pfarrer seinen Zettel heraus, auf dem mein Leben steht. Er lässt es gemächlich angehen, spricht bedächtig und mit dröhnender Stimme meinen Namen aus wie ein Ave-Maria. Schaut dann schweigend auf die Versammelten, als ob er eine Antwort erwartet. Dann sagt er ihn, seinen roten Faden, der ihn von nun an durch mein vorgelesenes Leben führen wird.
Alles zu seiner Zeit.
In zwei Sätzen handelt er meine Kindheit ab, über die ich ein ganzes Buch schreiben könnte, wenn ich mir nur die Zeit genommen hätte. Habe ich so wenig von mir preisgegeben?
Doch nun schwebe ich in meiner Blase, jetzt und hier, von hoch oben beobachtend, wie ihr um mich trauert oder verstohlen auf eure Handys blickt, ob sich irgendwo etwas Schlimmeres ereignet hat als mein Tod.
Alles zu seiner Zeit.
Der Pfarrer räuspert sich, verzettelt sich, findet nicht die richtige Zeit. Dann, seufzend, überspringt er meine wilden Jahre oder er hat nie davon erfahren, wie auch, er kennt mich nur vom Zuhören. Aber schnell findet er wieder seinen roten Faden und verkündet es erneut.
Alles zu seiner Zeit.
Nun war ich gespannt, was der Pfarrer als Abspann vorlesen würde. Es wird still in der Kapelle und alle schauen erwartungsvoll zu ihm auf, wie er da würdevoll und allwissend vor ihnen steht und was ihm wohl erzählt worden ist, von denen, die dabei waren, den Zeitzeugen. Doch er faltet seinen Zettel zusammen und rezitiert aus dem Buch für wohlwollende Nachreden, aus dem Kapitel ganz am Ende, mit halb geschlossenen Augen, auswendig, gekonnt meinen Namen einwebend in die schmeichelnden Worte. Auf der vordersten Bank fängt jemand ein Zeichen auf, das mir entgangen ist, und erhebt sich. Er rezitiert ein Gedicht, in knochigen Versen, ein wahrer Schüttelreim. Selbstverfasst, mir gefällt es, obwohl ich nicht alles verstehe. Das alles dauert nur einen Gedankenblitz und dann bin ich wieder hier, höre das hölzerne Klack, Klack, Klack der Verse.
Alles zu wessen Zeit?
Dann, mir zu Ehren oder als letzten Gefallen, ertönt aus unsichtbaren Lautsprechern meine Musik und es wird unruhig auf den Bankreihen, alle erheben sich zum Singen. Es ist spät geworden, viel kann nicht mehr kommen, die Kerzen zappeln mit den wenigen Enkeln um die Wette und auch der Pfarrer, ich sehe es ihm an und kann es ihm nicht verübeln, ist am Ende.
Alles zu seiner Zeit.
Draußen ist es dunkel geworden, der gelbe Laubteppich ist feucht vom Regen und vor der kleinen Kirche spannen sich die Regenschirme gegen den grauen Himmel. Ich möchte mich verkriechen, das hier zu einem würdigen Abschluss bringen. Danach in den wenigen Bildern weiterleben, die morgen zu den anderen auf die Kaminsimse und in die Schrankvitrinen gestellt werden. Feuchte, schwere Erde bedeckt meine Asche. Ich bin endlich frei und schwebe wie ein Ballon irgendwo hin. Nur weg von hier. Unten wird geweint oder ratlos der Rest der zerrissenen Leine betrachtet und dann erkenne ich meinen Franz, so als ob nichts gewesen wäre und alles neu beginnen könnte.