Koma

Die Bilder wurden ruhiger, in meinen Ohren verspürte ich leise den Nachhall der Worte, die soeben vom Berg Sinai erklungen waren. Wenn es meinen Körper noch gibt, er sollte mich doch nun mit Ehrfurcht, wenigstens mit Furcht erfüllen, doch ich verspüre nichts. Ein weiteres mal wende ich meine Aufmerksamkeit dem zu, was es zu ergründen galt.

Wenn es für mich ein Früher gegeben hat, dann wäre ich vielleicht ein ausgesprochener Pessimist gewesen, schlechte Nachrichten aufsaugend wie ein trockener Schwamm. Ehrlicher und ohne Zweifel gelebter Pessimismus, mit dem ich jeden Tag aufs neue die Verrücktheit der Welt kommentiert hatte. Mein Vertrauen an Gott und die Welt vielleicht soweit gesunken, das selbst eine Vision von einer idealen Welt ohne Krieg und Hunger in mir Beklemmungen auslöst hätte?

Ich bin mir völlig sicher, das irgend etwas anders ist als vorher, doch dieses Vorher ist mir auf eine seltsame Art fremd geworden und genau dieses Gefühl, das sich etwas dramatisch verändert hat und das es mir gerade so verdammt gut geht lassen mich ahnen, das ich mich nicht immer so wohl gefühlt habe in meiner Haut.

An eine andere Welt kann ich mich erinnern, nur die Erinnerung an meinem Platz in ihr, welche Rolle ich in ihr ausgefüllt habe, das ist mir völlig unklar. Diese Welt hier, in der ich ohne Ankündigung hineingeraten bin und die mir sogleich unwirklich und doch so völlig vertraut vorkommt, nötigt mich nicht, einen Platz oder eine Rolle zu finden. Diese Welt bin ich.

Ist es eine technologische Innovation, die gute Tat einer zufällig vorbeikommenden Alien Rasse, die uns aus Mitleid über unseren Kleingeist auf die nächste Evolutionsstufe gesetzt hat oder gar eine der beliebten gefühlsechten Reality Sims, die sich über das kollektive Netzwerk unkontrolliert verbreitet hat?
Alles ist plötzlich anders und doch fühlt es sich vertraut und richtig an. Es ist so verrückt, das mir erst nach "Tagen" auffällt, das ich weder gegessen noch getrunken habe. Auch die unangenehme Präsenz meines Körpers hat sich in ein schmeichelhaftes Gefühl von schmerzloser Unbesiegbarkeit gewandelt. Mein Gedächtnis verwöhnt mich mit einst liebgewonnenen Details, die mir Laufe der Jahre entglitten waren. Die Zustände der Welt, die ich anscheinend so verabscheut hatte, sind in einem nebulösem Schleier gehüllt. Was hält mich nun noch davon ab, meinen Zustand schlicht als Demenz zu bezeichnen?
Statt eines versinken im Erlebten und Vergangenem eröffnet sich mir Unbekanntes in einer noch nie wahrgenommen Intensität. Wie ein Kind, das in seinen Träumen die Kontrolle bewahrt, sich bewusst ist des Träumens und aktiv den Alptraum zum guten wendet, so ist es mir ein Leichtes, fremde Kolonien auf fernen Planeten zu erkunden, dem Flüstern der Mönche Neu-Tibets neue Wahrheiten zu entlocken oder im eisigem Polarmeer mit riesigen grauen Walen unhörbare Zwiesprache zu halten.

Doch damit nicht genug, ich fühle nun eine neue Verbundenheit mit der Welt und allen dort existierenden Lebewesen und Dingen. Wie einfach alles nun ist, ohne Sorgen und dem täglichen Durcheinander sich treiben zu lassen. Ein Traumtheater voller Überraschungen, begleitet durch das zustimmende Summen der mich umgebenden Seelen. Nur ganz selten geschieht es, das eine böse Ahnung meine Unbeschwertheit wie ein Gedankenblitz durchschießt und es ist mir jedes mal, als ob mir etwas entgangen ist, etwas von großer Bedeutung für mich. Doch Zeit hat nun keine Macht mehr über mich, ich bin mir sicher, das mich meine Wachträume bald von der Gegenwart entbinden, so wie ein Neugeborenes durch das durchtrennen der Nabelschnur in eine neue Welt geführt wird. Dann werde ich Vergangenheit und Zukunft erkunden und davon berichten können.

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Der leitende Chefarzt nässelte fahrig an dem Verschluss der Patientenmappe herum. Es war jedes mal unangenehm und niemand sollte ihm erzählen, es fehlte ihm die Routine bei solchen Formalitäten. Endlich öffnete sich der Verschluss und er verteilte unverzüglich die Untersuchungsberichte wie einen Schutzwall auf seinem Schreibtisch. Es war ein großer Schreibtisch, seinem Stand angemessen und wieder einmal verfluchte er den Umstand, das er als Chefarzt auch das folgende Gespräch zu führen hatte. Aber so waren die Vorschriften nun mal. Der Summer der Sprechanlage ertönte und er verzichte aus einem Impuls heraus darauf den Türöffner zu benutzen, der sich direkt neben seiner Hand befand. Er stand langsam auf und ging mit eingeübtem sicheren Schritt zur Tür und öffnete sie. Die Dame, die vor ihm stand, schaute ihn ausdruckslos an. Er hatte sie schon einmal gesehen, damals, als der Patient erst wenige Wochen im Koma gelegen hatte und es noch Hoffnung gegeben hatte, die Art Hoffnung, die eine Chefarzt Visite rechtfertigte. Dann wurde dieser Fall irgendwann in den Pflegebereich verlegt und er war entbunden worden von der Notwendigkeit, in die flehenden Augen der Angehörigen schauen zu müssen und an die Erinnerung an seine Machtlosigkeit. "Kommen Sie doch herein, ich bin Doktor Jeffries, wir haben telefoniert. Es ist alles vorbereitet, so wie wir es besprochen hatten. Es ist wirklich tragisch, in so jungen Jahren, aber Sie sind sich wirklich sicher, nach so langer Zeit die ihr Mann im Koma verbracht hat, nun doch die lebenserhaltenen Maßnahmen abschalten zu lassen" Was redete er für einen Unsinn? "Nun, es fehlt nur noch Ihre Unterschrift, hier und hier und dann noch hier. Sie haben doch die Patientenverfügung?"

Wie einen schweren Stein schob sie langsam den Umschlag mit den Dokumenten, die sachlich den endgültigen Tod eines geliebten Menschen legitimierten gegen den Schutzwall aus Untersuchungsberichten. Ein seltsamer Augenblick tat sich auf, wie das warten auf den Donner nach einem grellen Blitz am Nachthimmel, Sekunden zählend und die eigene Sicherheit abschätzend und dann, als wären beide zu einem Ergebnis gekommen fanden sie zur gebotenen Sachlichkeit zurück

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